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LESEPROBE NATURAL WITCHES

Kapitel 1

Milla

Ich sauge tief die Luft ein, ehe ich den Atem anhalte und austeste, welche Stimmung heute über White Oak liegt. Irgendetwas fühlt sich verkehrt an. Mehr Magie als sonst schwirrt durch die Zimmer der Akademie und sie ist alles andere als kontrolliert und geordnet, wie ich es gewohnt bin. Sofort breitet sich eine Gänsehaut auf meinen Armen aus, auch wenn ich noch in meinem kuscheligen Bett liege.

Noch bevor ich die Augen richtig geöffnet habe, springe ich aus der Wärme meines Bettes und ziehe meinen zwei Freundinnen die Decke weg.

»Lucinda Knight, Abigail Sage, spürt ihr das auch?«, rufe ich und reiße die Mädchen, mit denen ich mir das Zimmer teile, aus dem Schlaf. »Da stimmt was nicht! Wacht auf!«

Stöhnen ertönt und im Halbdunkel unseres Zimmers kann ich gerade noch so einem Kissen ausweichen, die Vase auf dem Regal neben der Tür allerdings nicht. Mit einem lauten Klirren landet sie auf dem Boden.

»Sei leise, Milla! Wir können noch mindestens eine halbe Stunde bis zum Morgentee schlafen«, knurrt Abigail Sages Stimme in der Dunkelheit. Alle hier nennen sie Big Sage, aber ich habe nie verstanden, wieso. Sie ist weder groß, noch eine Salbeipflanze. Aber wie eine Abigail sieht sie auch nicht aus. Eher wie eine Amanda oder eine Alice.

Heftig schüttle ich den Kopf. »Und was ist, wenn das gefährlich ist? Ihr wisst doch, was Professor Flint über Magie gesagt hat«, entgegne ich und sehe den Professor genau vor mir. Wie er auf seinem Podium im Wassersaal stelle ich mich auf Lucinda Knights Holzkiste am Fußende ihres Bettes und hebe den Zeigefinger meiner rechten Hand in die Höhe. Großmutter sagt, dass man mit der linken Hand vorsichtig sein muss. Die verwenden böse Hexen zum Zaubern, wenn sie jemandem wehtun wollen.

»Magie muss kontrolliert fließen. Die kleinste Unruhe kann bereits gefährlich sein und in manchen Fällen sogar tödlich enden«, gebe ich seine Warnung Wort für Wort wieder und bemühe mich, dabei wie er zu klingen. Die Stimme ein bisschen höher und mit langen Atemzügen nach jedem dritten Wort, als wäre ich gerade das Treppenhaus bis zu unserem Zimmer hochgerannt.

»Es ist noch viel zu früh, um an Unterricht zu denken, Milla!«, murmelt Lucinda Knight und zieht sich die Decke über den Kopf. Zumindest glaube ich, dass sie das tut, weil aus ihrer Ecke des Zimmers ein lautes Rascheln kommt. Oder war das etwa das leere Bett, das ihrem gegenübersteht? Wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sich Gegenstände verselbständigen. Kein Wunder bei all der Magie in der Luft!

»Denkt, an was ihr wollt, aber ich schaue mir das jetzt an!«, entgegne ich, auch wenn ich mich eigentlich gar nicht traue. Ohne Abigail Sage und Lucinda Knight verlasse ich fast nie das Zimmer. Das bin ich mittlerweile so gewohnt und Großmutter sagt immer: »Egal, was du machst, Milla-Schätzchen, gehe niemals alleine durch White Oak. Manche sind nicht mehr zurückgekommen.« Dann lacht sie laut, was eher wie ein Husten klingt, und tätschelt mir so fest den Kopf, dass ich auch noch Stunden später Kopfweh habe. Ob das wirklich wahr ist?

Keine Ahnung. Aber herausfinden will ich es auch nicht …

Wieder und wieder höre ich ihre Worte in meinem Kopf, spüre ihre feuchtwarme Hand auf meinem Haar und merke, wie sich langsam Kopfschmerzen ankündigen. Trotzdem greife ich nach meinem Morgenmantel, der mir, wie die meisten meiner Klamotten, viel zu groß ist. Großmutter gibt mir immer ihre Sachen, aber sie ist ungefähr dreimal so breit wie ich und wesentlich größer. Mir ist das egal. Ihre Klamotten erinnern mich an sie, an Zuhause, wo ich ganz alleine herumlaufen kann, ohne zu verschwinden.

»Milla, du gehst doch jetzt nicht ernsthaft da raus, oder?«, fragt Abigail Sage und klingt plötzlich ganz anders. Nicht mehr so genervt, sondern eher wie Großmutter, wenn ich mit meinen Gedanken nicht ganz dagewesen bin.

»Doch!«, entgegne ich und schiebe die Ärmel des Morgenmantels hoch, um den Gürtel zusammenbinden zu können. »Ich will wissen, was da los ist!«

Ich springe von der Kiste herunter und lande mit den Füßen auf dem eiskalten Steinboden. Das Feuer in unserem kleinen Kamin ist schon vor Stunden ausgegangen. Da kühlt das Zimmer schnell aus, vor allem jetzt im Herbst. Kein Wunder, dass Lucinda Knight oder sogar das leere Bett die Decke hochgezogen haben.

Wieder höre ich ein Stöhnen, ehe es erneut in der Dunkelheit raschelt, diesmal aber aus Abigail Sages Richtung.

»Zieh dir wenigstens Socken an!«, rät sie mir.

Ich wackle mit den Zehen auf dem Boden und zucke dann die Schultern. Was macht so ein bisschen Kälte, wenn wir alle in großer Gefahr sind?

»Keine Zeit, Abigail Sage!«, rufe ich und setze mich in Bewegung. Wie das Wasser von Loch Codwyll umgibt die Kälte meine Beine, aber das ist mir egal. Ich muss einfach wissen, was in der Nacht passiert ist, dass die Magie hier so außer Kontrolle geraten ist.

»Milla!«, ruft Abigail Sage mir hinterher, aber da habe ich die Tür schon erreicht und bin schneller im Treppenhaus, als sie »Stopp!« sagen kann.

Ich renne die Treppe herunter und folge der Spur von Merkwürdigkeit in der Luft, die die übliche Magie dieses Ortes wie ein Dolch geteilt hat.

»So soll das nicht sein«, murmele ich und erreiche endlich das Erdgeschoss. Über mir höre ich Schritte aus dem Treppenhaus. Vielleicht sind das Joana Waterhouse, Violet Ellis und Tamsin Blight, die etwas für ihre Figur tun müssen, wie sie es nennen. Wobei ich nie verstanden habe, was sie denn nun tun …

Also beeile ich mich nur umso mehr. Die drei, die Abigail Sage immer die Witch-Bitches nennt, mögen mich nicht sonderlich. Wenn sie mich sehen, verziehen sie immer ihre Gesichter, als hätten sie einen ekeligen Geschmack im Mund. Und manchmal sagen sie komische Sachen über Großmutter, die mir nicht gefallen, also versuche ich, sie gleich wieder zu vergessen.

»Wo kommst du her?«, frage ich leise, als ich die Eingangshalle betrete, und sehe mich um.

Hier fühlt es sich so an, als hätte die Merkwürdigkeit in der Luft wie ein Wirbelsturm gewütet. Auf den ersten Blick ist alles wie immer. Zu viel Staub auf den Regalen und dem Tisch, auf dem das dicke Lederbuch mit Namen liegt. Vertrocknete Blumen in der Vase und viele schwarz-weiß Bilder an der Wand. Großmutter sagt, dass es früher keine farbigen Fotoapparate gegeben hat. Aber warum haben sie dann keine Farbe in die Bilder gezaubert?

»Guten Morgen, Milla«, erklingt Miss Marthas Stimme. Es gefällt mir nicht, dass ich nur ihren Vornamen kenne. Jeder kennt nur ihren Vornamen, weil sie ihren Nachnamen vergessen hat.

»Morgen«, nuschele ich, als ich endlich herausgefunden habe, wo die Spur der Merkwürdigkeit weiterführt und rausche an unserer Haushälterin vorbei.

Die Schritte, die ich vorhin noch über mir gehört habe, sind nun hinter mir und klingen so gar nicht nach den Witch-Bitches. Eher nach Abigail Sage, polternd und schwer. Aber sie ist nicht allein. Wenn ich mich auf sie konzentriere, spüre ich direkt hinter ihr Lucinda Knights Magie. Ein wenig verschlafen und etwas außer Kontrolle geraten, aber kein Vergleich zu dem, was mich einen Gang und zwei Treppenstufen hinter einer der Türen zu den Gästezimmern erwartet.

Im schwachen Licht, das durch das einzige Fenster fällt, sieht sie aus wie ein schlafendes Mädchen mit Schlamm im Haar. In ihrem Inneren tobt allerdings ein Sturm, der offenbar die Ursache für die ganze Merkwürdigkeit in der Luft ist. Aber gefährlich wirkt sie nicht. Trotzdem bleibe ich im Türrahmen stehen, nur für den Fall, dass sie und ihre Magie gleich erwachen.

»Hab‘ ich doch gewusst, dass wir eine Neue haben.« Beim Klang von Joana Waterhouses Stimme zucke ich zusammen und wirble zum Gang herum. Mit den Armen vor der Brust verschränkt baut sie sich hinter mir auf und starrt wie ich auf das schlafende Bündel Chaos am anderen Ende des Gästezimmers.

»Niemand, den ich kenne. Also ist sie eine Zufällige«, sagt sie mit einem prüfenden Blick auf das Mädchen mehr zu sich selbst als zu mir. Gerade das letzte Wort spuckt sie aus, als wäre es eine Fliege, die sie aus Versehen eingeatmet hat. Das sagen viele Hexen so, aber Großmutter hat mir beigebracht, dass das sehr böse ist. Zufällige sind auch nur Hexen.

»Das sagt man nicht so«, platzt es aus mir hervor, ohne dass ich es verhindern kann.

»Als ob du verstehen könntest, was das bedeutet«, entgegnet Joana Waterhouse mit einem ziemlich finsteren Blick auf das Mädchen. Dann stößt sie sich vom Türrahmen ab und verschwindet, wobei ich den Klang ihrer Stöckelschuhe noch lange hören kann. Großmutter würde mich nie solche Schuhe tragen lassen. »Du behältst deine Füße besser auf dem Boden, Milla-Schätzchen, standhaft wie ein mächtiger Baum.«

Ihre Stimme verklingt sofort, als ich näher an das Bett trete, um das Mädchen zu betrachten. Sie schläft noch immer und hat nicht gehört, wie gemein Joana Waterhouse zu ihr gewesen ist. Ist wohl auch besser so, sonst hätte ihre Magie die Energien von White Oak nur noch mehr durcheinandergebracht.

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