LESEPROBE DIE GEHEIMNISSE DEINER SEELE
KAPITEL 1
Lenoras tränenüberströmtes Gesicht verschwimmt vor meinen Augen. Es löst sich langsam im strahlenden Glanz jener magischen Strömung auf, die das Diesseits mit dem Jenseits verbindet. Gleißendes Licht umhüllt mich, als ich zwischen den Sphären wandle. Sophies Seele protestiert dabei in meinem Inneren, kämpft gegen mich an. Sie klammert sich an ihr Leben, obwohl es längst vergangen ist, ausgelöscht durch den Tumor, den sie Lenora verschwiegen hat. Ein unangenehmes Ziehen breitet sich in meinem Brustkorb aus, als sie wieder und wieder versucht, mir zu entkommen.
Das vertraute Kribbeln des Übergangs setzt ein, überzieht meinen ganzen Körper und vertreibt schließlich das helle Licht um mich herum. Als ich die Augen öffne, ist das Zimmer im Seniorenheim verschwunden, und mit ihm Lenora. Stattdessen befinde ich mich an einem Flussufer, grobe Kiesel und Felsbrocken zu meinen Füßen. Ich atme tief durch, sauge die vertraute, reine Luft ein, die sich von der auf der Erde so sehr unterscheidet. Hier liegt pure Magie und Leben in jedem Atemzug, während sich auf der Erde nur ein winziger Hauch davon wahrnehmen lässt. Wenn überhaupt.
Und es ist still hier, so unglaublich still. Kein Vogel singt, kein Wind weht heulend über das steinige Ufer hinweg. Einzig das sanfte Rauschen des Lebensflusses zu meiner Rechten ist zu hören. Über ihn wird Sophies Seele bald schon in ein neues Leben gelangen.
Ich schließe seufzend die Augen und versuche, mich zu sammeln, mich an meine neue Umgebung zu gewöhnen. Die ersten Sekunden im Jenseits sind jedes Mal aufs Neue unheimlich. Es dauert allerdings nicht lang, da hat mich das tiefe Gefühl von Frieden und Ruhe umfasst, das so typisch für diesen Ort ist.
Sophies Seele kämpft noch immer gegen mich an, diesmal erfolgreich, kaum dass ich meinen Widerstand aufgegeben habe. Sie bahnt sich einen Weg aus meinem Inneren hervor, drückt sich meinen Hals hinauf, bis ich das Gefühl habe, weder schlucken noch atmen zu können. Obwohl ich schon so viele Seelen nach deren Tod begleitet habe, überwältigt mich der Schmerz jedes Mal aufs Neue. Ich beuge mich nach vorn, stütze meine Hände auf den Knien ab. Einen qualvollen Moment lang glaube ich, ersticken zu müssen. Als mir schwarz vor Augen wird und mich der Schwindel von den Füßen zu reißen droht, finde ich Halt an einem großen Steinbrocken. Schwer stütze ich mich auf seine raue Oberfläche auf.
Ruhig, Ciaran! Wehre dich nicht dagegen, dann geht es schneller vorbei, höre ich Gabriels Stimme in meinem Kopf. Eine flüchtige Erinnerung an meine erste Reise ins Jenseits als vollwertiger Seelenführer.
Trotz des Drucks auf meiner Kehle, versuche ich, Gabriels Anweisungen von damals zu folgen. Ein Ruck geht plötzlich durch meinen Körper. Kaum dass Sophies Seele mein Innerstes verlassen hat, lässt dieses beklemmende Gefühl schnell wieder nach. Als ich blinzelnd die Augen öffne und mich umdrehe, schwebt sie vor mir, gleißend hell wie das Licht, das uns auf unserem Weg hierher umgeben hat. Nur langsam ebbt das Strahlen ab und nimmt einen pfirsichfarbenen Schimmer an.
»Kilian? Wo … wo sind wir?«, fragt Sophies Seele mit glockenreiner Stimme und macht einige Schritte auf den Wald jenseits des Flussufers zu.
»Erinnerst du dich, was geschehen ist?«, frage ich sie, spreche aber doch nicht aus, was ich eigentlich wissen will. Ob sie sich an den Grund erinnert, weshalb wir hier sind. An ihren Tod.
»Was? Nein … Was machen wir hier? Und wo ist Lenora?« Verwundert blickt sich Sophies Seele im Jenseits um, tritt an das Ufer des Flusses zurück, der diese Sphäre mit den Landen der Lebenden verbindet, jenem Ort, an dem wir Lenora zurücklassen mussten. Hin und wieder kann man bunt leuchtende Schlieren darin erkennen. Es sind andere Seelen, die ins Leben zurückkehren. Sobald sich mein Schützling an den Gedanken gewöhnt hat, nicht länger Sophie zu sein, wird er ihnen folgen.
Statt ihr zu antworten, lasse ich Sophies Seele Zeit, sich zu orientieren. Die Erinnerungen werden von ganz allein zurückkehren. Oft dauert es nur paar Minuten, bis sich eine Seele an ihren letzten Besuch im Jenseits erinnert. Ein Blick auf den rauschenden Fluss oder den Wald hinter dessen steinigem Ufer reicht oft schon aus. Oder ihr Seelenname, der wirklich und wahrhaftig einzigartig ist.
»Lenora ist nicht hier, Taisla. Wir sind in Eomis, dem Land der Seelen«, sage ich schließlich, als ich das Schweigen zwischen uns nicht mehr aushalte, das Rauschen des Flusses plötzlich zu laut wird.
Sophies leuchtende Seele fährt zu mir herum. Während ihre ganze Gestalt verschwommen ist, wie ein schimmernder Schatten, trägt sie noch immer das faltige Gesicht von Lenoras Großmutter. Wütend schallt mir der Klang ihrer Seele entgegen, nicht mehr leise und zurückhaltend, wie gerade eben noch, sondern aufgebracht und wirr.
»Taisla? Land der Seelen? Kilian, was redest du denn?« Vor Verwunderung verzieht sie ihr Gesicht. Diese Reaktion ist vollkommen normal, schließlich erinnern sich die meisten Seelen im ersten Augenblick nicht an ihre früheren Leben oder an ihren ursprünglichen Namen.
»Taisla ist dein Seelenname, der Name, den du in deinem ersten Leben von deinen Eltern erhalten hast«, erkläre ich Sophie ruhig und schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln. Gabriel hat mir etwas ganz Ähnliches erzählt, als er mich in die Geheimnisse von Leben und Tod eingeweiht hat.
»Kannst du dich daran erinnern?«, frage ich vorsichtig, denn ich weiß, dass das nicht immer leicht ist. Ich kann es auch nicht, will es vielleicht gar nicht. Zu viel ist seitdem passiert und meine Aufgabe als Seelenführer erfordert seit Jahrzehnten meine gesamte Aufmerksamkeit.
»Ich … ich weiß nicht …«, stammelt Taisla und schüttelt nachdenklich den Kopf. Ihre Seele beginnt plötzlich zu flackern. Erste Schatten zeigen sich auf ihrer Haut aus purem Licht. Die Erinnerungen kehren zurück. Sie drängen sich aus dem Inneren ihrer Seele nach außen, und mit ihnen all die Verletzungen und dunklen Momente, die sie in ihren vorherigen Leben durchgemacht hat. Es müssen einige gewesen sein, aber weit weniger als bei Lenora.
»Was ist das? Kilian, was passiert mit mir?«, fragt Taisla erschrocken und fährt mit ihren leuchtenden Fingern über ihren durchscheinenden Seelenkörper. »Wo … Wo kommen all diese Erinnerungen her?«
»Aus deinen früheren Leben. Und bald werden neue hinzukommen, da bin ich mir sicher, Taisla«, entgegne ich und streiche ihr vorsichtig über ihre bebenden Schultern.
»So viel Tod … So viel Schmerz«, wispert sie und fährt über die dunklen Stellen, die sich mal tief, mal oberflächlich auf ihrem Seelenkörper abgelagert haben.
»Keine Sorge, die meisten wird der Fluss fortwaschen, wenn du die Reise in dein nächstes Leben antrittst«, versuche ich sie zu beruhigen. Dass manche dieser Wunden jedoch zu tief sitzen und sie Leben für Leben weiter begleiten könnten, verschweige ich ihr lieber. Ich will sie nicht noch mehr verschrecken. Außerdem sind diese Momente, die uns wirklich geprägt haben, besonders und persönlich. So sehr ich Lenoras Großmutter auch in mein Herz geschlossen habe, bezweifle ich, dass sie sie mit mir teilen wollen würde.
»Mein nächstes Leben … Was soll das heißen? Bring mich sofort zurück nach Dunkelfelsen, Kilian. Ich will das hier nicht! Ich will diese Erinnerungen nicht …«, protestiert Taisla, doch mischt sich Zweifel in ihre Stimme.
»Wir können nicht zurück, und ich glaube, das weißt du auch.« Ich zwinge mich zu einem aufmunternden Lächeln, auch wenn es mir widerstrebt, hier zu stehen. Mit der Seele, die in ihrem letzten Leben Lenoras Großmutter gewesen ist. Die eine Person, die dafür gesorgt hat, dass wir doch noch zueinander finden. Was wäre nur ohne sie aus uns geworden?
»Ich … ich verstehe das nicht …«, haucht sie und lässt sich traurig auf einen der Steine um uns herum sinken. Mit ihren Fingern aus Licht und Schatten fährt sie über dessen Risse und raue Kanten. Es sind weit mehr, als auf ihrer leuchtenden Seele zu sehen sind.
Ich dagegen bleibe, wo ich bin. In solchen Momenten muss man einfach abwarten, bis die Seele all das hier begreift. Sich damit abfindet, dass das letzte Leben nun abgeschlossen ist und ein neues bereits auf sie wartet. In der Regel geht es recht schnell, es sei denn, die Seele klammert sich wirklich sehr an ihr altes Leben.
»Kilian, ich muss zu Lenora. Es ist wirklich schön hier, aber wir können nicht bleiben. Bring mich zurück«, fordert Sophies Seele in ihrem gewohnt resoluten Ton. Sie scheint ein solcher Härtefall zu sein und macht es mir so noch schwerer, diese Situation zu verarbeiten. Viel Zeit habe ich zwar nicht mit Lenoras Großmutter verbracht, aber ich werde sie vermissen. Tue es jetzt schon, auch wenn uns der Abschied noch bevorsteht.
Wütend balle ich die Hände zu Fäusten und atme tief durch. Noch nie hat mich der Besuch im Jenseits so viel Kraft gekostet, mir alles abverlangt, um vor Taisla zu verbergen, wie sehr mich ihr Tod berührt. Warum bin ausgerechnet ich in Sophies Nähe gewesen, als sie gestorben ist? Alles wäre so viel einfacher, hätte ein anderer Seelenführer die Aufgabe übernommen, ihre Seele hierher zu bringen. Elvira oder Gabriel vielleicht.
Konzentriere dich, Kilian. Darüber kannst du auch noch nachdenken, wenn es vorbei ist, mahne ich mich streng und schlucke meinen Ärger herunter. Ein bisschen muss ich noch stark sein. Für Taisla. Für das Wohl ihrer Seele. Um ihr den Übergang zu erleichtern. Es ist schon schmerzlich genug, ein Leben samt all dieser geliebten Menschen hinter sich zu lassen. Da muss ich es ihr nicht noch schwerer machen.
»Wir können nicht zurück. Du bist gestorben. Du bist nicht länger Sophie.« Jedes einzelne Wort brennt wie Feuer in meinem Herzen, schmeckt bitter auf meiner Zunge. »Es tut mir so leid … Ich …«
Fest presse ich die Lippen aufeinander und kämpfe gegen die Traurigkeit an, die diese unmögliche Situation in mir heraufbeschwört. Genau deshalb halte ich mich von den Lebenden fern. Um nicht verletzt zu werden. Um nicht diesen schrecklichen Schmerz spüren zu müssen, sobald es für sie Zeit ist, ein altes Leben zu beenden und ein neues zu beginnen. Weit fort von mir.
Warum musste ich diese eine Regel brechen, als ich Lenora über den Weg gelaufen bin?
»Kilian, was …?« Sophies Seele schwebt auf mich zu, nur um mitten in der Bewegung innezuhalten. Ihr zartrosa Seelenlicht blendet mich, sodass ich mich abwenden muss und meinen Blick stattdessen auf den Fluss richte. Auf ihre Zukunft.
»Du bist nicht länger Sophie, Taisla«, wiederhole ich und hoffe, dass ihr diese Tatsache langsam bewusst wird. Sie muss einfach begreifen, dass ihr letztes Leben vorbei ist, aber ein weiteres bereits auf sie wartet. Der Tod ist nie das Ende, wie so viele Sterbliche auf der Erde und all den anderen Planeten glauben. Er ist die Tür zu etwas Neuem, zu neuen Abenteuern, aber auch Gefahren.
»Und wer bin ich dann?«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Taisla neben mich schwebt und nun ebenfalls auf den Fluss hinausblickt. Nebel wabert über das klare Wasser, sodass man das andere Ufer nicht sehen kann. Noch nie habe ich einen Blick darauf erhaschen können.
Was wohl dahinter liegt?
Als ich Gabriel danach gefragt habe, hat er mir nur eine sehr unbefriedigende Antwort gegeben: Dieses Wissen brauchen wir Seelenführer nicht. Unser einziger Zweck, unsere Pflicht ist es, die Seelen Verstorbener unbeschadet hierher zu bringen, damit sie ein neues Leben beginnen können. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich seufze leise und wende mich ihr zu. »Du bist eine Seele, Taisla, und deine Aufgabe im Lande der Lebenden ist noch nicht beendet. Es wird Zeit, dass du zurückkehrst.«
»Zu Lenora?« Hoffnungsvoll hebt sie den Kopf.
Es tut mir im Herzen weh, sie enttäuschen zu müssen. Ich wünschte, die beiden könnten wieder aufeinandertreffen, oder besser noch: dass alles beim Alten bleibt. Dass Lenoras Seele heilt, anstatt an Sophies Tod zu zerbrechen. Aber es ist unfair, Taisla falsche Hoffnungen zu machen, auch wenn sie sich in ihrem neuen Leben vermutlich gar nicht mehr an mich erinnern wird. Oder an Lenora.
Zögerlich zucke ich mit den Schultern.
»Es ist nie gewiss, wohin es dich im nächsten Leben verschlagen wird. Manche Seelen verbringen noch einige Leben miteinander, andere ziehen weiter. Nur das Schicksal allein weiß, wo wir landen, sobald wir in die Fluten springen«, wiederhole ich die Worte, die man mir vor so vielen Jahrtausenden nach meinem ersten Tod gesagt hat. Es sind genau die Worte, die die Abenteuerlust in mir geweckt haben. »Das ist nicht das Ende, Taisla, sondern erst der Anfang.«
»Natürlich ist das das Ende, Kilian! Wenn ich jetzt gehe, werde ich sie nie wiedersehen«, sagt Taisla leise. Der Schmerz in ihrer Stimme bohrt sich in meine Seele, hinterlässt dort ganz gewiss einen dunklen Fleck. Einer, der sich ausbreiten wird, sobald ich zu Lenora zurückkehre und die Trauer in ihren blaugrauen Augen sehe. Ihre Verzweiflung spüre, als wäre es meine eigene.
»Eure Pfade könnten sich wieder kreuzen, in einem anderen Leben«, sage ich beinahe automatisch. Wie viele meiner vorherigen Schützlinge hängt Taisla an einer anderen Seele aus ihrem letzten Leben. Und wie immer scheinen diese Worte sie zu verärgern. Taislas Seelenlicht wird schwächer, ist plötzlich von dunklen Schlieren durchzogen.
»In welchem denn? Wird sie überhaupt ein weiteres Leben haben?«
Abrupt drehe ich mich zu Taisla um, beobachte sie ganz genau. Weiß sie, wie es um Lenoras Seele bestellt ist?
»Ja, Kilian, ich weiß es. Ich … Ich kann sie jetzt mit anderen Augen sehen. Es ist schwer zu erklären, aber ich sehe Lenoras Seele in meinen Erinnerungen. Dunkel und zerbrochen. Hoffnungslos. Verloren …«
Ich schlucke schwer und wende mich von ihr ab. Taisla das sagen zu hören, schwächt das letzte bisschen Hoffnung, das ich noch für Lenora übrig habe. Die ganze Zeit über habe ich es nicht wahrhaben wollen. Wenn nun sogar eine Seele wie Taisla sieht, was für mich seit unserer ersten Begegnung offensichtlich ist, wie kann ich mich dann noch gegen diese Tatsache wehren?
»Kilian?« Taisla beobachtet mich, scheint auf eine Antwort zu warten, aber ich will es einfach nicht laut aussprechen. Das kann ich nicht verkraften.
»Kilian, es tut mir so leid!« Taisla steht plötzlich neben mir, hat mir ihre strahlende Hand auf die Schulter gelegt. Magie pulsiert durch ihren Körper und lässt eine Gänsehaut auf meinen Armen entstehen. Taislas Zauberkraft ist gering, aber dennoch ein Wunder. Es ist mehr als Lenora noch zur Verfügung steht. So viel mehr.
»Mir auch, Taisla«, bringe ich schließlich hervor, woraufhin ihr Griff fester wird. »Mir tut es auch leid.«
Für einen Moment fühlt es sich wieder so an, als versuche eine Seele, meinem Inneren zu entkommen. Ich kann weder atmen noch schlucken. Meine Kehle zieht sich zusammen, bis ich keine Kraft mehr habe, um aufrecht zu stehen. Taisla stützt mich, bringt mich zu einem der großen Steine und hilft mir auf, als ich über meine eigenen Füße stolpere. Meine Selbstbeherrschung ist dahin, ausgelöscht von meiner Sorge um Lenora.
»Was soll ich nur tun, wenn sie …?«, wispere ich und kann den Satz doch nicht beenden. Ich kann es einfach nicht aussprechen. Seit ich Lenora kenne, fühle ich mich nicht mehr wie ich selbst. Als wäre ich mehr. Als wäre ich untrennbar mit ihr verbunden, wo doch im Moment so vieles zwischen uns liegt. Welten, ganze Sphären und Sophies Tod. Er wird Lenoras Seele endgültig zerstören.
»Du wirst einen Weg finden. Ihr werdet einen Weg finden, Kilian. Zusammen. Da bin ich mir sicher. Eure Liebe strahlt heller als die dunkelsten Schatten des Universums. Auch das kann ich jetzt sehen, habe es immer schon gespürt«, sagt Taisla irgendwann und streicht mir aufmunternd über den Rücken. Jede ihrer Berührungen ist wie ein kleiner Stromschlag, der mich zusammenzucken lässt. Taisla scheint es jedoch nicht zu bemerken. Die Melodie ihrer Seele ist plötzlich so viel ruhiger. So viel entspannter.
»Das gibt mir Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist …« Seufzend lässt sie ihren Blick über den Fluss schweifen, folgt den bunten Schlieren darin, die sich zu einem neuen Leben aufmachen. Dieser Anblick weckt früher oder später immer die Sehnsucht in den Seelen. Die Sehnsucht nach mehr, nach einem neuen Abenteuer in den Landen der Lebenden. Eine Sehnsucht, die irgendwann so stark sein wird, dass nichts mehr sie aufhalten kann. Auch nicht die Sorge um Lenora.
Und doch wünschte ich, Taisla würde noch bleiben. Zum ersten Mal, seit meine Seele existiert, hasse ich Eomis und die Reinheit seiner Luft. Ich hasse den Fluss, der Leben von Tod trennt, und den Nebel, der mir die Sicht auf das andere Ufer nimmt. Ich hasse es, Teil dieses endlosen Kreislaufs zu sein und doch nichts gegen diese Ungerechtigkeit unternehmen zu können.
»Wie du schon gesagt hast, ist das nicht das Ende.« Taisla steht auf. Nun ist sie es, die mich aufmunternd anlächelt. Mit ihrer leuchtenden Seelenhand streicht sie mir durchs Haar, versucht meine eigene Seele mit ihrer Berührung zu beruhigen. »Das ist erst der Anfang, Kilian. Der Anfang von etwas ganz Wunderbarem.«
Ihr Lächeln wird breiter, als sie sich rückwärts auf den Fluss zu bewegt. »Ich weiß nun, was ich tun muss. Und wir werden uns wiedersehen. In diesem neuen Leben oder einem danach. Mit Lenora an deiner Seite.«
Die Zuversicht in Taislas Stimme überrascht mich. Sie muss sich wieder an alles erinnern. Nur dann sind die Seelen wirklich im Reinen mit sich und ihrem Schicksal. Nur dann kommen sie über ihr letztes Leben hinweg und machen sich bereit für ein neues.
Am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte Taisla zurückgehalten, doch meine Pflichten als Seelenführer verbieten es mir. Ich darf keine Seele stoppen, die sich entschließt ins Leben zurückzukehren. Und trotzdem würde ich es so gerne tun. Was würde ich dafür geben, um Taisla zurück zu Lenora zu bringen, zurück zu Sophies leblosem Körper, nur um zu verhindern, dass Lenoras Seele noch mehr leidet, noch mehr zerbricht!
»Geh zurück zu ihr, Kilian. Sie braucht dich jetzt mehr denn je.« Das Flehen in Taislas Stimme zeigt, wie sehr sie noch immer an Lenora hängt.
»Ich wünschte, ich könnte mit dir kommen, aber ich weiß, dass ich das hinter mir lassen muss. Dass ich meine Bestimmung nicht ignorieren darf, so wie …« Taisla bricht abrupt ab und weicht zurück. Ihr Seelenkörper leuchtet vor Schreck über das, was sie beinahe ausgesprochen hätte, heller auf.
Und leider hat sie recht.
Irgendetwas scheint Lenora daran zu hindern, ihrem Schicksal zu folgen, den Auftrag zu erfüllen, den ihre Seele einst von den Ewigen erhalten hat. Nur wer über viele Leben hinweg keine Ruhe in Eomis gefunden hat, kann sich selbst so zugrunde richten.
Eine Seele ist erst frei, wenn sie ihre Aufgabe abgeschlossen hat, flüstert Gabriels Stimme in meinem Kopf.
Und genau deswegen halte ich Taisla nicht zurück, auch wenn es mich beinahe zerreißt, sie gehen zu lassen. Mehr noch als alle Seelen vor ihr.
Wie immer, wenn sich ihm eine Seele nähert, steigt die Strömung des Flusses, als könnte er sie so schneller zurück ins Leben ziehen.
»Ich kann das nicht alleine, Taisla«, sage ich. Ich kann Lenora nicht alleine heilen, nicht, nachdem ich derjenige war, der ihr Sophie genommen hat.
»Wie gut, dass du nicht alleine bist, Kilian. Wir sind überall«, ruft mir Taisla mit einem Lachen über das Dröhnen des Flusses zu. Das Wasser geht ihr schon fast bis zu den Knien. Das Licht ihrer Seele löst sich darin auf, je weiter sie in den Fluss hineintritt. Es treibt mit der Strömung davon und reißt Taisla schließlich mit sich.
»Die Hoffnung siegt immer«, ruft sie mir zu, ehe auch sie in die Strömung gesogen wird und wie all die anderen Seelen zurück ins nächste Leben treibt.
Ich blicke ihr hinterher, bis das gleißende Licht ihrer Seele im rauschenden Fluss verschwindet. Eigentlich hätte ich schon längst ins Diesseits zurückkehren müssen, schließlich habe ich meinen Auftrag erfüllt. Taisla hat ihr altes Leben hinter sich gelassen und die Reise in ein neues angetreten. Vielleicht nimmt sie in diesem Moment ihren ersten Atemzug, öffnet zum ersten Mal ihre Augen.
Aber ich kann noch nicht zurück. Ich kann nicht mitansehen, wie Sophies Tod Lenora zugrunde richtet. Wie soll ich ihr je wieder in die Augen blicken, wenn ich ihr das letzte bisschen Familie genommen habe, das ihr noch geblieben ist?